28.07.2022

Zehntausend Roboter, hunderttausend Euro, vier Knöpfe, zwei Regler, ein DJ, null Performance.


KOLUMNE VON RAPHAEL KRICKOW 

im Journal Frankfurt LIVE! 

Nr. 15-2022, 28.07.-10.08.2022


Eine Samstagnacht 1984 in einem Club – nicht in der Disco! Die Motivation war das Lebensgefühl, eine Nacht mit Gleichgesinnten zu verbringen, die alle ein Interesse daran hatten, bei etwas Neuem dabei zu sein. Es war aber auch eine Art Abgrenzung zum Mainstream, der grundsätzlich an dem teilnehmen wollte, an dem die meisten teilnahmen. Und zwar weniger aus inhaltlichen Gründen, denn aus sozialen. 


Das Neue bestand damals darin, dass der in der Regel noch unbekannte DJ einen auf eine musikalische Reise mitnahm. Es war der Beginn der Selbstverwirklichung des DJs durch den Mix elektronischer Musik. Gefeiert hatte sich in dieser Nacht aber die Tanzfläche selbst. Der DJ arbeitete noch irgendwo am Rand und eher unsichtbar.


Ich bin seit meiner Jugend ein regelmäßiger Konzertgänger. The Police, die Rolling Stones, Deep Purple, Fischer Z, Genesis, Toto, Saga. Besuchte aber auch schon von Anfang an die eher elektronischen Konzerte von Kraftwerk, Ultravox, New Order, Depeche Mode, Duran Duran, Frankie Goes To Hollywood.


Weit größer als diese Konzerte sind die heutigen, sogenannten elektronischen Festivals, wie Tomorrowland, Nature One, Parookaville oder Sonne Mond Sterne. Veranstaltungen von denen Erwachsene noch nie etwas gehört haben.


Es ist eine Ambivalenz, dass ich selbst als Künstler seit 25 Jahren bei diesen Festivals spiele, das Prinzip dieser Art des Feierns aber nach wie vor nur schwer nachvollziehen kann. Der Charakter ist ähnlich dem, der Rockkonzerte. Nur stehen auf dem Mainfloor Zehntausende mit Blickrichtung DJ-Pult und sehen ein oder zwei eher unbewegliche Köpfe meist aus hunderten Metern Entfernung. Die „Arbeit“ besteht darin, an Reglern zu ziehen und Knöpfen zu drehen. Aus den Boxen kommt dann das Ergebnis, dass sich kaum von dem der Anfänge in den Clubs unterscheidet. Außer, dass man damals noch wirklich mit Schallplatten „arbeiten“ musste. Und wer aufmerksam hinschaut, bemerkt, dass außer beim „Drop“ auch kaum getanzt wird, obwohl hier Dance Music läuft.


Immerhin sind viele der Festivals mittlerweile sehr kreativ gestaltet und schön anzusehen. Aber wissen die Gäste eigentlich, was der „Künstler“ da oben wirklich macht? Zum Großteil spielt er das Ergebnis der Arbeit von anderen Projekten aus deren Studios, die es leider nicht auf diese Festivals geschafft haben – weil zu unbekannt. So gesehen also das Gegenteil von Rockkonzerten. Denn da ist nach wie vor echte Action auf der Bühne, die man auch aus weiter Entfernung sehen kann. Gibt es etwas Langweiligeres als dem DJ beim Mixen zuzusehen?


Die Entwicklung der Pionierarbeit von damals hat also nun den Höhepunkt des Höher-Schneller-Weiter erreicht, indem sich die Community nicht mehr selbst feiert, sondern sie mit 200 Euro Eintrittsgeldern Gagen von über 100.000 Euro für ein einstündiges, komplett vorprogrammiertes, sogenanntes „DJ-Set“ finanziert. Über den Inhalt dieser musikalischen Darbietungen lässt sich natürlich auch streiten. Aufgrund der inflationär vielen Social Media Postings von euphorischen DJs vor tausenden Hey-Ho-Jüngern kann man sich fragen, wofür nun genau sich diese Künstler eigentlich feiern.


Es ist ein mainstreamigeres Mainstream als es je war. Es ist der neue Karneval, die Kirmes, das Disneyland der Jugend, das börsennotierte Woodstock ohne Message. Meist an Orten die mit dem 9 Euro Ticket nicht erreichbar sind, weswegen man dann auf der Anfahrt zwei Stunden im Stau durch den Acker steht.


In der Rückschau eine erfolgreiche Entwicklung vom Underground zur Massenbewegung, bei der die Show zur Haupt- und die Inhalte zur Nebensache wurden. Aber es gibt sie noch, die kleinen Festivals, und die Clubs, wo man Neues entdecken kann – wenn man denn will.


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